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Die Entpolitisierung von Unterdrückung

Die Palästinenser:  Lagerhaltung eines ‚überflüssigen’ Volkes

Von Jeff Halper

September 16, 2008

 

So schnell ist der Systemwechsel in der unteilbaren Einheit Israel-Palästina, dass wir kaum damit Schritt halten können. Die geplante, systematische Kampagne, in der die Palästinenser im Jahre 1948 aus dem Land getrieben wurden, war schnell vergessen. Die Not von mehr als 700000 Flüchtlingen wurde rasch zu einem unsichtbaren ‘Nicht-Thema’. Stattdessen wurde ein tapferes, europäisches, ‘sozialistisches’ Israel der Liebling selbst der radikalen Linken. Die Kampagne der ethnischen Säuberung, die seine Gründung erst ermöglichte, wurde vollständig ausgeblendet.

Genauso blieb Israels Besetzung der West Bank, Ost-Jerusalems und Gazas im Jahre 1967 bis zum Ausbruch der ersten Intifada Ende des Jahres 1987 faktisch ein Nicht-Thema.  Der einzige Teil des Konfliktes, der auf dem öffentlichen Radar auftauchte, war die Gleichsetzung von Palästinensern mit Terroristen. Bis zum Beginn der Verhandlungen von Oslo im Jahre 1993 konnte man das Wort ‘Besetzung’ nicht erwähnen –  von ‘Palästinensern’ ganz zu schweigen. Tat man es, wurde man als Anti-Semit beschimpft.  Selbst als dann der Konflikt, wenn schon nicht die Besetzung als solche, ins internationale Rampenlicht rückte, beherrschte Israel das äußerst wichtige Feld der Öffentlichen Meinung. Das typische Argument gegen den Kampf der Palästinenser ist die weitverbreitete Ansicht, dass Arafat das ‘großzügige Angebot’ Ehud Olmerts in Camp David ausschlug. Tatsächlich aber hat es nie ein ’großzügiges Angebot’ gegeben.  Selbst wenn Barak 95% der besetzten Gebiete angeboten hätte (wie Olmert später 93% ‘anbot’), selbst dann würde ein palästinensischer Staat wenig mehr als ein verstümmeltes und nicht lebensfähiges südafrikanisches Bantustan auf weniger als 20% des historischen Palästinas umfassen. Diese Tatsachen verschwanden im Nebel. Alles was blieb, war ein erneut dämonisierter Arafat. Sharons anschließende Inhaftierung des palästinensischen Präsidenten in einem dunklen Raum seines zerstörten Hauptquartiers, die ihn politisch und, wie ich glaube, auch physisch eliminierte, rief praktisch keinen Widerstand und keine Kritik in der internationalen Gemeinschaft hervor.

Nichtsdestoweniger, ein entschlossener Einsatz von Gruppen der Zivilgesellschaft weltweit – Menschenrechtsgruppen, politischen Organisationen, Kirchen, kritischen jüdischen Gruppen, Gewerkschaften, Intellektuellen und sogar  von bestimmten politischen Persönlichkeiten in Israel wie auch im Ausland – hat während der letzten zehn Jahre dazu geführt, dass die Besatzung zu einem globalen Thema wurde. Kaum jedoch hatte das Konzept der Besatzung sich im öffentlichen Bewusstsein verankert, schon überholte Israels fieberhafte Expansion, die ‘Schaffung von Fakten vor Ort’, diesen Begriff.

Im internationalen Recht wird Besatzung als eine ‘vorübergehende militärische Situation’ definiert. Es gibt inzwischen mehr als 200 ausschließlich jüdische Siedlungen und Außenposten in den besetzten Gebieten, die in sieben große Siedlungs“blöcken“  gegliedert sind. Es handelt sich dabei um größere urbane Zentren, die alle unauflöslich mit dem eigentlichen Israel durch ein massives Netzwerk von Straßen, die nur von Israelis benutzt werden dürfen, verbunden und durch die Sperranlagen (Mauer) gesichert sind. Diese Fakten haben die Besatzung zu einer Dauersituation gemacht. Ein einheitliches israelisches System ist zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer entstanden, das weder vorübergehend ist, noch durch Sicherheitsbedürfnisse begründet werden kann. Diejenigen, die nicht wegsehen wollten, konnten die Wahrheit erkennen: die Besatzung ist umgewandelt worden in einen permanenten Zustand der Apartheid. Es handelt sich um eine de-facto Realität. Wenn der ‘Annapolis Prozess’ (Nah-Ost Friedensgespräche in 2007 mit Entwicklung der sog. ‘Roadmap’) sich gemäß israelischen Vorstellungen entwickelt, wird die Besatzung de jure ein Apartheidssystem werden, das clever als ‘Zwei-Staaten-Lösung’ verkauft und von einer kollaborierenden palästinensischen Führung gutgeheißen wird.

 

In Wirklichkeit aber spielt Annapolis keine Rolle. Israel weiß genau, dass weder die Palästinenser noch die internationale Zivilgesellschaft eine Apartheid akzeptieren werden. Die Gespräche haben die Aufgabe, die auch alle anderen ‘politischen Initiativen’ der vergangenen 40 Jahre hatten: Sie sollen jede Lösung verhindern, die Israel dazu zwingen würde, wirklich bedeutsame Zugeständnisse zu machen. Gleichzeitig dienen die Verhandlungen als politische Tarnung und als Zeitgewinn, um vor Ort unumkehrbare Fakten zu schaffen.

Israels ‘Besatzung’ geht längst über den Begriff ‘Apartheid’ hinaus, einem Begriff, der schon in dem Moment aus der Mode kam, als er unter großem Geschrei und Protest an Akzeptanz gewann. Was sich vor unseren Augen entwickelte und was wir hätten sehen können, für das uns aber die Begrifflichkeit fehlte, ist ein System der Lagerhaltung, eine statische Situation ohne politischen Inhalt.

‘Was Israel geschaffen hat,’ so argumentiert Naomi Klein in ihrem neuen, eindringlichen Buch ‘Die Schock-Strategie’ (Frankfurt 2007)‘… ist ein System, …ein Netzwerk von offenen Käfigen für Millionen von Menschen, die als überflüssig kategorisiert worden sind…. die Palästinenser sind nicht das einzige Volk, das in diese Kategorie fällt. Dieses Ausschließen von 20 -60% der Bevölkerung war das Markenzeichen eines Kreuzzuges der Chicago School of Economics. In Südafrika, Russland, New Orleans bauen die Reichen Mauern um sich selbst herum. Israel hat diesen ‘Wegwerf-Prozess’ noch einen Schritt weiter entwickelt: Es hat Mauern rund um die gefährlichen Armen gebaut.’ (s. 442, engl. Ausgabe)

Die Tatsachen, die Israel vor Ort geschaffen hat, sind nur der physische Ausdruck einer Politik, die das Ziel der Entpolitisierung hat und so die Kontrolle normalisieren will.

Der Israel-Palästina Konflikt wird nicht präsentiert als ein Konflikt mit ’Seiten’ und mit einer politischen Dynamik. Stattdessen wird er charakterisiert als ‘Krieg gegen den Terrorismus’, einem Phänomen, das jeden Bezug zur Besatzung eliminiert oder als irrelevant abtut. Offiziell behauptet Israel, es gebe keine Besatzung.  Da ‘Terrorismus’ und der ‘ Zusammenprall der Zivilisationen’, der dahinter steht,  als offensichtlich dauerhaft vorhanden dargestellt wird, nimmt es die Form eines ‘Nicht-Themas’ an, eines Status Quo (Israels offizieller Terminus für seine Politik gegenüber den Palästinensern), der jeder Lösung oder jeglichen Friedensverhandlungen widersteht. Wenn die Terroristen und ihresgleichen – Gefangene, illegale Einwanderer, Slumbewohner und die Armen, unzufriedene Opfer von ‘Aufstandsbekämpfung’, Anhänger von ‘üblen’ Religionen, Ideologien oder Kulturen – um nur einige zu nennen – als etwas, mit dem man ‘umgehen’ muss, gesehen werden und nicht als Menschen, auf deren Kummer, Nöte und Rechte man eingehen muss, dann sind Gefängnisse, einschließlich riesiger Gefängnisse wie Gaza und die besetzten palästinensischen Gebiete als Ganzes die letztendliche Lösung.

Lagerhaltung ist also der beste, wenn auch trostloseste Begriff für das, was Israel für die Palästinenser in den Besetzten Gebieten errichtet.  In vieler Hinsicht ist es schlimmer, als die Bantustans in Südafrika: Die zehn, nicht lebensfähigen ‘homelands’, die in Südafrika für die schwarzafrikanische Mehrheit auf 11% des Landes errichtet wurden,  waren sicherlich eine Art von Lager. Sie sollten Südafrika mit billiger Arbeitskraft versorgen und gleichzeitig von seiner schwarzen Bevölkerung befreien und so eine von Europäern dominierte ’Demokratie’ schaffen.  Das ist genau, was Israel auch beabsichtigt – seine palästinensischen Bantustans umfassen 15% des historischen Palästinas – aber mit einem entscheidenden Unterschied: palästinensische Arbeiter dürfen nicht nach Israel hinein. Man hat eine billigere Arbeitskraftquelle entdeckt. Israel hat ca. 300000 Arbeiter aus China, Thailand, den Philippinen, Rumänien und West-Afrika geholt und diesen Pool noch aufgefüllt mit seinen eigenen arabischen, Mizrahi (Juden aus überwiegend arabischen Ländern), äthiopischen, russischen und osteuropäischen Bürgern. So kann Israel es sich leisten, die Palästinenser auszuschließen und ihnen gleichzeitig eine eigene, lebensfähige Wirtschaft mit ungehinderten Beziehungen zu den umliegenden arabischen Ländern vorenthalten.

In jeder Beziehung, historisch, kulturell, politisch und wirtschaftlich sind die Palästinenser nun definiert als ‘überflüssig’. So kann man mit ihnen nichts anderes tun, als sie in Lagern zu halten, was offenbar die internationale Gemeinschaft zu tolerieren bereit ist.

 

Da Lagerhaltung ein globales Phänomen ist, und Israel ein Modell dafür entwickelt, sollte, was den Palästinensern widerfährt, jedermann betroffen machen. Es könnte sich als eine völlig neue Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit entwickeln, und sollte als solches der universellen internationalen Rechtsprechung  der Gerichte dieser Welt unterliegen, genauso, wie andere entsetzliche Menschenrechtsverletzungen. In diesem Sinne hat Israels Besatzung Implikationen, die weit über einen lokal begrenzten Konflikt zwischen zwei Völkern hinausreichen. Israels Kontrollsystem ist vielschichtig, ein System permanenter Unterdrückung, das kafkaeske  Verwaltung, Gesetzgebung und Planung verbindet mit offen gewaltsamer Kontrolle über eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die eingekesselt ist von abgezäunten Wohnanlagen (in diesem Fall den Siedlungen), Mauern und verschiedenen anderen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Wenn es Israel gelingt, dieses System

zu exportieren, dann, so schreibt Klein,  wird eines Tages jedes Land wie Israel-Palästina aussehen: ‘Ein Teil wird aussehen wie Israel; der andere wird aussehen wie Gaza.’ Mit anderen Worten: ein globales Palästina.

Dies alles erklärt, weshalb Israel gar nicht daran interessiert ist, einen wirklichen Friedensprozess zu beginnen oder seinen Konflikt mit den Palästinensern zu lösen. Durch die Lagerhaltung hat Israel nur Vorteile: Es hat völlige Freiheit, seine Siedlungen und seine Kontrolle weiter auszudehnen, ohne je irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen, wie es eine politische Lösung erfordern würde. Gleichzeitig wird deutlich, warum die internationale Gemeinschaft Israel dies ‘durchgehen’ lässt: Anstatt die internationale Gemeinschaft mit unbequemen Problemen zu konfrontieren, die gelöst werden müssen, (Menschenrechtsverletzungen, internationale Rechtsprechung und wiederholte UN-Resolutionen, ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die der Konflikt als solcher auf die internationale Politik und Wirtschaft hat) wird es stattdessen gesehen, als ein Land, das einen wichtigen Dienst liefert, nämlich den, ein Modell zu entwickeln, nach dem ‘überflüssige Bevölkerungen’ überall auf der Welt permanent kontrolliert, verwaltet und eingeschlossen werden können.

Israel befindet sich also in völliger Übereinstimmung mit der wirtschaftlichen wie auch militärischen Logik des globalen Kapitalismus. Hierfür wird es großzügig belohnt. Unser Fehler besteht darin, ermutigt durch Begriffe wie ‘Konflikt’, ‘Besatzung’ und ‘Apartheid’, Israels Kontrolle über die Palästinenser als ein politisches Problem zu sehen, das gelöst werden muss. Stattdessen wird es ‘gelöst’, wenn die Palästinenser zum Verschwinden gebracht worden sind, genauso, wie Menschen verschwanden zu Zeiten der lateinamerikanischen Militärregime.

Dov Weisglass, der Architekt des Rückzugs aus Gaza während der Sharon-Regierung, drückte das in einem vielsagenden Interview aus (“The Big Freeze,” Ha’aretz Magazine, Oct. 8, 2004):

„Der Rückzugsplan ist ein  Konservierungsmittel. Er ist die Flasche Formaldehyd, in der der Plan des Präsidenten (dass nämlich Israel seine Siedlungsblocks behalten kann, einschließlich Groß-Jerusalems) aufbewahrt wird, so dass er für eine sehr lange Zeit bestehen bleibt. Der Rückzugsplan ist wirklich Formaldehyd. Er stellt sicher, dass es keine politischen Verhandlungen mit den Palästinensern geben wird.

  

Heißt das, dass sie die Strategie der langfristigen zeitweiligen Abkommen durch die der langfristigen  Übergangssituation abgelöst haben?

Der amerikanische Begriff heißt ‘Dauerparken’. Der Rückzugsplan erlaubt es uns, in einer Übergangssituation zu verharren, die uns politischen Druck weitgehend vom Halse hält. Er legitimiert unseren Standpunkt, dass es mit den Palästinensern nichts zu verhandeln gibt. Es gibt hier die Entscheidung, möglichst wenig zu tun, um unsere politische Situation so zu erhalten, wie sie ist. Die Entscheidung erweist sich als richtig. Sie ermöglicht den Amerikanern der gereizten und wütenden Weltgemeinschaft gegenüber zu treten und zu fragen’ Was wollt Ihr denn?’ Und es gibt uns auch die Initiative in die Hand. Sie zwingt die Welt, sich mit unserer Idee auseinander zu setzen, mit dem Szenario umzugehen, das wir entwickelt haben….“

Lagerhaltung ist das schlimmste der politischen Konzepte, weil sie die Entpolitisierung der Unterdrückung bedeutet, den Übergang von einem erstrangigen politischen Problem zu einem ‘Nicht-Problem’, einer bedauerlichen aber unvermeidlichen Situation, der man am Besten mit Unterstützung, Wohltätigkeit und Hilfsprogrammen begegnet, zusammen mit Plänen für wirtschaftliche ‘Entwicklung’. Es ist eine Sackgasse, ein Faktum, für das es keine Lösung gibt.

Natürlich ist das nicht der Fall, und wir dürfen auch nicht zulassen, dass es so dargestellt wird. Lagerhaltung ist eine Politik im Interesse der Mächtigen. Wir benutzen den Begriff ‘Lagerhaltung’, um die Dinge ‘beim Namen zu nennen’, um uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, und um sie desto besser bekämpfen und besiegen zu können. Wiederum liefert uns Israel ein überzeugendes und ermutigendes Beispiel: Trotz der nahezu unbegrenzten und unkontrollierten Macht, die Israel über jedes Element palästinensischen Lebens hat (einschließlich der aktiven Unterstützung der USA, Europas und großer Teile der internationalen Gemeinschaft, einschließlich einiger arabischer Länder), hat Israel es versäumt, sowohl die Apartheid als auch die Lagerhaltung endgültig abzusichern. Der palästinensische Widerstand geht weiter, unterstützt von den arabischen und muslimischen Völkern, wichtigen Teilen der internationalen Zivilgesellschaft und dem kritischen israelischen Friedenslager. Die destabilisierende Wirkung des Konflikts auf das internationale System wächst stetig, so dass sie am Ende die internationale Gemeinschaft zur Intervention zwingen kann. Weder die Israelis noch die Amerikaner (mit europäischer Komplizenschaft) sind trotz ihrer überwältigenden Stärke in der Lage, den Palästinensern die Lösung aufzuzwingen, die sie wollen.

Der Begriff ‘Lagerhaltung’ also, obwohl er ein wirkliches Phänomen beschreibt, ist auch als Warnung gemeint. Wir müssen unsere Anstrengungen fortsetzen, die israelische Besatzung zu beenden, selbst wenn es letztendlich die Schaffung eines wirklichen Palästina-Israel oder einer größeren regionalen Konföderation bedeutet, anstelle einer 2 Staaten-Lösung mit Apartheid oder Lagerhaltung. Der Blick auf Palästina als Mikrokosmos einer größeren, globaleren Realität der Lagerhaltung versetzt uns in die Lage, die gleichen Elemente anderswo viel deutlicher zu identifizieren und das Modell zu verstehen, das Israel entwickelt. Dadurch können wir es viel effizienter bekämpfen. Allerdings, unsere Sprache und die Analyse, die sie ermöglicht, muss nicht nur ehrlich sein, ohne zu beschönigen;  sie muss auch mit den politischen Intentionen Schritt halten und mit den sich immer rascher entwickelnden Fakten vor Ort.

JEFF HALPER ist der Direktor des israelischen Kommitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD) Sie erreichen ihn unter: jeff@icahd.org.