Posted on Mai 25, 2022, von & gespeichert unter ICAHD Newsletter.


Von Johannes Zang
„Gerade werden drei Häuser in Ost-Jerusalem abgerissen“, ruft Angela Godfrey-Goldstein vom Israelischen Komitee gegen Hauszerstörung ICAHD in den Hörer. Die aus Südafrika stammende Jüdin kennt der Autor dieser Zeilen von Demonstrationen. „Wo?“ In Ost-Jerusalem benötigt man einen Anhaltspunkt, da in manchen Vierteln weder Straßennamen noch Abwasseranschluss existieren. Jabbal Mukkaber? Dorthin würde man finden. Hektisch werden Kamera, Notizblock, Aufnahmegerät, Wasserflasche gepackt. Dann heißt es auf ein Taxi warten. Endlich! Ein palästinensischer Chauffeur hält. Das Ziel, bitte? „Jabbal Mukkaber, dort wird ein Haus abgerissen.“ Seine ruhige Antwort: „Ich kann dir auch mein zerstörtes zeigen.“ Schon zieht er unter dem Sitz eine laminierte Zeitungsseite hervor: Sein Lebenstraum unter Schutt begraben.
Schon ist das Toktok der Abrissbagger zu hören. Ein Ring von Sicherheitskräften hält jeden fern, der dem Abrissobjekt zu nahe kommen will. Der Reporter wird unmissverständlich beschieden, besser zu gehen, doch gelingen ihm in der Eile trotz wackeliger Hand einige Fotos. „Osama bin Laden soll ein Terrorist sein? Das sind die Terroristen!“, ruft ein junger Palästinenser dem Journalisten auf Englisch zu und zeigt auf Soldaten und Polizei.
Hauszerstörung war das erste Symptom der Militärbesatzung. Ins Herz Jerusalems rollten nur Stunden nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die Bagger, Dynamit erledigte den Rest und zermalmte die seit dem Mittelalter einst vor der Klagemauer stehenden 135 palästinensischen Häuser im Marrokaner-/Mughrabi-Viertel. Israel vernichtet bis heute Häuser – aus militärischer Notwendigkeit, als Strafe für die ausgeführte Terrorattacke eines Familienmitglieds oder weil der Bauherr keine Baugenehmigung hat. Die bleibt für Palästinenser Ost-Jerusalems oder des C-Gebiets im Westjordanland fast immer ein Traum. Meir Margalit von ICAHD und ehemaliges Mitglied im Jerusalemer Stadtrat, weiß, was Palästinenser zu hören bekommen: Es gebe weder Bebauungsplan noch Wasser- und Stromanschluss, das Grundstück liege im Grünstreifen oder über einer historischen Stätte, die noch ausgegraben werde. Margalit: „Die Stadtverwaltung weigert sich ständig, ihnen legales Bauen auf eigenen Grundstück zu erlauben.“ Für wenige wird der Traum vom genehmigten Bauantrag wahr – nach langem Warten, dem Bezahlen einer Baugebühr im fünfstelligen Dollarbereich oder als „Dank“ für Informationen an den israelischen Geheimdienst. 150.000 Palästinenser, so der jüngst veröffentlichte und heftig gegeißelte Report von Amnesty International, leben unter dem Damoklesschwert des Abrissbefehls. ICAHD-Mitgründer Professor Jeff Halper bilanziert: „Das ist eine der schmerzhaftesten Seiten der Besatzung und Kollektivstrafe.“ Das von ihm vor 25 Jahren mitgegründete Komitee hat jüngst diese Zahl veröffentlicht: Seit 1947 wurden in Israel und den besetzten Gebieten über 131.000 palästinensische Häuser zerstört.“ Seit 1947 …
So weit zurück müsse man zurückgehen für eine Wurzelbehandlung des Konflikts, meint ein weiteres Geburtstagskind: die israelische Organisation Zochrot (weibl. Plural von „erinnern“). Sie kämpft seit 20 Jahren dafür, dass Israel „die fortbestehenden Ungerechtigkeiten der Nakba“ anerkennt, dafür Verantwortung übernimmt und Wiedergutmachung leistet. Nakba (arab. Katastrophe) meint Flucht und Vertreibung von mindestens 700 000 Palästinensern, Entvölkerung von 500 bis 600 Dörfern, Verlust von Häusern, Fabriken und Plantagen vor und nach der Staatsgründung Israels. Darüber klären die fünf Mitarbeiter auf – drei israelische Jüdinnen und zwei Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit – , in tatsächlichen und virtuellen Touren. Wenn möglich lässt Zochrot einen Heimatvertriebenen die Gruppe durch sein früheres Dorf führen, von dem vielleicht nur noch das Minarett steht, ein Kirchturm oder Grabsteine. „Wenn sie die Ruinen ihrer Häuser berühren, berühren sie damit auch den schmerzhaften Moment ihrer eigenen Vertreibung“, weiß man bei Zochrot. Indem man Vertriebene zu Wort kommen lässt und die Tour mittels Film und Broschüre festhält, erfahren sie „Anerkennung und Augenblicke der Heilung.“
Anlässlich des 20. Geburtstages startete Zochrot jüngst die Kampagne Zehn Tage der Rückkehr zwischen „israelischem Unabhängigkeitstag“ und dem Nakba-Tag mit Podiumsdiskussionen, Vorträgen und Touren. Najwan Berekdar verantwortet die Medienarbeit und nennt unserer Zeitung weitere Projekte: die App iNakba, ein neues Video einer Nakba-Überlebenden sowie die Kampagne #ExposeJNF. Hinter dem Kürzel verbirgt sich der Jüdische Nationalfonds, dessen Erholungsparks in Israel zum Teil über zerstörten palästinensischen Orten errichtet wurden. Dortige Infoschilder, so Berekdar, verschweigen die palästinensische Vergangenheit. Zochrot-Aktivitäten zielen darauf, „die Wahrheit über israelische Verbrechen und die palästinensische Geschichte“ bekannt zu machen. Dazu errichtet die Organisation an einem entvölkerten Ort ein mehrsprachiges Schild mit dem ursprünglichen arabischen Ortsnamen, auf die Gefahr hin, dass es gewaltsam entfernt wird. Nicht nur solcher Gegenwind von mutmaßlich national-religiösen Juden schlägt Zochrot regelmäßig entgegen, auch politischer. Vor zehn Jahren wurde das sogenannte Nakba-Gesetz verabschiedet, das öffentliches Gedenken unter Strafe stellt. Als wären das der Hürden nicht genug, musste die Organisation ihr Büro schließen. Shir Hever, Israeli in Heidelberg und Mitarbeiter von BIP, dem Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern, weiß die Hintergründe. Die hauptsächlich europäischen Förderer „beschlossen, die Finanzierung einzustellen, nachdem sie von rechten israelischen Organisationen angegriffen wurden.“ Für Hever ist das „sehr traurig“, denn Zochrot sei „unglaublich wichtig“, auch weil es den „Diskurs in Israel verändert und den Begriff Nakba weithin bekanntgemacht“ habe.
Zochrot ruft nichtsdestotrotz den israelischen Bürgern die Wurzel des Konflikts in Erinnerung, überzeugt dass in der Anerkennung ebendieser Nakba „eine Chance für ein besseres Leben aller Einwohner“ liegt.
Für das Jubiläum hat man die Internetseite völlig überarbeitet. Man findet unter anderem Kurzfilme mit geflüchteten, heimatvertriebenen Palästinensern oder ihren Nachkommen, aber auch Interviews mit israelischen Soldaten, die 1948 kämpften oder Palästinenser vertrieben. Das Zochrot-Team verkündet in drei Sprachen, was viele Israelis nicht gerne hören dürften: „Wir sind Teil einer Generation, die sich von überholten Vorstellungen jüdischer und weißer Überlegenheit und Vormachtstellung befreit und losreißt. Wir haben verstanden, dass wahrer Friede nur durch Gerechtigkeit erreicht werden kann. Wir rufen auf, sich zu den Verbrechen von 1948 zu bekennen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wir unterstützen das Rückkehrrecht und die Verpflichtung, eine gerechte Gesellschaft für alle in Palästina aufzubauen.“
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Info zu den beiden erwähnten Organisationen:
www.icahd.org und www.icahd.de
https://www.zochrot.org

Zum Autor:

J. Zang (Jg. 1964) hat fast zehn Jahre in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gelebt. Sein fünftes Buch Erlebnisse im Heiligen Land ist im vergangenen Herbst im Promedia-Verlag Wien erschienen. Er betreibt den Nahost-Podcast Jeru-Salam.

Bildunterschriften:
Zwei Abrissbagger, ein gelber Volvo, ein roter Daewoo, reißen das Haus im Winter ab – es stand gerade einmal ein Jahr. Laut ICAHD wurde einmal ein Haus erst nach 17 Jahren zerstört; manche wurden mehrfach zerstört und immer wieder aufgebaut.

Jeff Halper (Jg. 1946), in den USA geborener israelischer Jude, hat mit israelischen, palästinensischen und ausländischen Helfern fast 200 abgerissene Häuser wieder aufgebaut. 2018 gründete er mit anderen die One Democratic State Campaign. Vom Autor zahlreicher Bücher liegt auf Deutsch vor: Ein Israeli in Palästina. Israel vom Kolonialismus erlösen, AphorismA, Berlin 2010

Meir Margalit (Jg. 1952) wurde in Buenos Aires geboren und emigrierte 1972 nach Israel. Ein Jahr später wurde er im Yom Kippur-Krieg verwundet. In der Zeit seiner Rekonvaleszenz erlebte er einen Sinneswandel und wurde zum Pazifisten. Das Bild zeigt ihn vor einem zerstörten Haus in Ost-Jerusalem unweit von Bethlehem.

Lifta: Einige Häuser von Lifta (am Stadtrand des heutigen West-Jerusalem) stehen heute noch, im Gegensatz zu den meisten entvölkerten Dörfern von 1948: 2013 fragte Zochrot Mohammed Abu Leil, der in Lifta geboren wurde und als Erstklässler 1948 fliehen musste, was er sich für sein Dorf wünsche. Antwort: „Wir hoffen, dass sie das Dorf nicht zerstören. Das wäre sehr barmherzig von Gott. Es ist ein Paradies. Ich habe Angst um das Grab meines Großvaters. Ich fürchte, dass eines Tages eine Diskothek über seinem Grab sein könnte. Ich kann Lifta nicht vergessen. Wenn sie es abreißen – dann lasst mich in meinem Haus begraben sein.“